Kirchenstatistik der Schweiz: Hohe Mitgliederzahl bei fragiler Kirchenbindung

26. Nov. 2019

Zur Medienmitteilung, Kurzfassung, vom 26. November 2019, hier:

1. Mitgliederhoch

Die Kirchenstatistik der katholischen Kirche in der Schweiz zeigt ein facettenreiches Bild.
Auf der einen Seite bewegt sich die Zahl der Kirchenmitglieder seit einigen Jahren auf einem historischen Hoch. Grund dafür ist vor allem die Zuwanderung katholischer Gläubiger aus dem Ausland. Das Bundesamt für Statistik zählte für 2017 genau 2’524’414 Katholikinnen und Katholiken über 15 Jahren in Privathaushalten. Ergänzt man noch ca. 15% an Menschen, die unter 15 Jahre alt sind oder nicht in Privathaushalten, z.B. in Heimen, leben, dann erreicht die katholische Kirche einen Mitgliederbestand von ca. 2.9 Millionen Menschen. Da die Zuwanderung in die Schweiz in den letzten Jahren wieder etwas rückläufig war, ist auch der historische Jahreshöchststand der Gläubigen in der katholischen Kirche von 2014 um gut 60‘000 gesunken.
Neben der Migration sind zwei Faktoren für die Veränderungen der Mitgliederzahl mitentscheidend: die Ein- und die Austritte sowie das Taufverhalten katholischer Eltern.

Während die Öffentlichkeit regelmässig Interesse an den Austrittszahlen der Kirchen zeigt, sollten die kirchlich Verantwortlichen ebenso auf die Entwicklungen im Frömmigkeits- und Taufverhalten ihrer Gläubigen achten. Hier nämlich dürften die kirchlichen Handlungsspielräume noch am grössten sein.

2. Ein- und Austritte

Die Austrittszahlen der katholischen Kirche schwanken von Jahr zu Jahr. Insgesamt kann man einerseits eine langsam steigende „Sockelerosion“ und andererseits „anlassbezogene Austrittswellen“ erkennen. Eine solche anlassbezogene Austrittswelle hat 2018 im Vergleich zum Vorjahr zu einem um einen Viertel höheren Anstieg der Austrittszahlen geführt.

 

2.1 Langsame Erosion durch Austritte

Die Sockelerosion im Mitgliederbestand meint eine vergleichsweise geringe und nur sehr langsam steigende aber doch regelmässige Quote an jährlichen Kirchenaustritten. Diese Quote liegt beim Blick auf die letzten Jahre bei etwas unter einem Prozent der Kirchenmitglieder. In der Regel liegt hier eine jahrelange, manchmal über Generationen verfestigte Entfremdung von der Kirche vor. Der Kirchenaustritt ist dann meistens Ausdruck einer persönlichen Kosten-Nutzen-Bilanz, bei der der Wert der Kirchenmitgliedschaft als nicht mehr ausreichend wahrgenommen wird, um (kirchensteuerzahlendes) Mitglied zu bleiben. Seitens der Kirchen wird auf diese Form des Austrittsverhaltens vor allem mit einer intensivierten Kommunikation über die Arbeit der Kirche, über ihre sozialen oder kulturellen Leistungen und über Transparenz und Verantwortlichkeit im Bereich der Kirchenfinanzierung reagiert, wie dies zum Beispiel in St. Gallen der Fall ist.

 

2.2 Anlassbezogene Austrittswellen

Anlassbezogene Austrittswellen kommen unregelmässig zur Sockelerosion hinzu. Sie werden dann sichtbar, wenn beispielsweise durch Skandale in der Kirche (z.B. Machtmissbrauch) oder durch unpopuläre Stellungnahmen (z.B. zur Sexualmoral oder zu politischen Fragen) eine latente Austrittsneigung zu einer anlassbezogenen Austrittsreaktion führt. In solchen Situationen ist die Kirche in ihrem Tun und Handeln sowie in ihrer Kommunikation stark herausgefordert, um negativen Schlagzeilen glaubwürdig und überzeugend positive Erfahrungen entgegenzusetzen.

Während die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche schweizweit 2017 bei 20‘014 lag, ist sie 2018 um einen Viertel auf 25‘366 angestiegen. Dieser sprunghafte Anstieg dürfte vor allem als Reaktion auf zahlreiche Berichte über sexuellen und geistlichen Missbrauch sowie über unzureichende kirchliche Reaktionen (Vertuschung, mangelhafte Aufbereitung, intransparente Kommunikation) in der katholischen Kirche weltweit zu verstehen sein. Die Zahl der Kirchenaustritte 2018 ist sogar noch höher als 2010, als es schon einmal einen Austrittsschub im Kontext der Missbrauchsproblematik gab.
Auch die reformierte Kirche in der Schweiz musste 2018 einen Anstieg der Austrittszahlen hinnehmen. Dieser lag mit 21‘751 Kirchenaustritten knapp 10% über den Zahlen des Vorjahrs.

2.3 Kircheneintritte

Die Eintrittszahlen in die katholische Kirche sind im Vergleich zu den Austrittszahlen auf einem sehr niedrigen Niveau. Dennoch lässt sich in den vergangenen Jahren ein leichter Aufwärtstrend feststellen, der allerdings bei weitem nicht für eine Kompensation der Austrittszahlen reicht: Setzt man Ein- und Austritte ins Verhältnis, so kann man im Schnitt der vergangenen Jahre von einem Eintritt auf mehr als 20 Austritte ausgehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass etliche Kantone gar keine Kirchenmitgliedschaft im staatskirchenrechtlichen Sinne kennen, so dass in diesen Kantonen keine Organisationsein- wie -austritte (mit entsprechender Wirkung bei der Steuerzahlung) gezählt werden können.
2018 erreichte die Zahl der katholischen Kircheneintritte den bisherigen Höchstwert von 1‘121. Auffällig ist dabei im Vergleich mit der reformierten Kirche, dass diese höhere Eintrittszahlen erfasst: 2018 sind 1978 Personen in die reformierte Kirche eingetreten.

3. Kirchenbindung und Sakramentenempfang

Ein Kirchenaustritt steht fast immer am Ende eines schon längeren Entfremdungsprozesses von der Kirche. Die SPI-Kirchenstatistik der katholischen Kirche in der Schweiz zeigt diesen Entfremdungsprozess anhand der Zahl des Empfangs von Sakramenten, also von wichtigen Symbolhandlungen der katholischen Kirche. Wenn Kirchenmitglieder auf den Empfang von Sakramenten verzichten, dann ist dies oft ein Zeichen für eine innere Entfremdung von der Kirche – auch dann, wenn dies noch lange nicht zu einem Kirchenaustritt führen muss. So gibt es seit einigen Jahren eine wachsende Vielfalt an Ritualen und Segenshandlungen, die unterhalb des Radars der Kirchenstatistik anstelle der klassischen Sakramente vollzogen werden.

 

3.1 Kirchenbindung und Trauung

Für das bessere Verständnis der Entwicklung der Mitgliederzahlen der katholischen Kirche gilt es also, die Intensität der kirchlichen Sozialisation und Praxis genauer ins Auge zu fassen. Der Blick auf die Entwicklung der Zahl katholischer Trauungen zeigt, dass dieses Sakrament immer weniger gespendet wird. Seit 2013 ist die Zahl katholischer Trauungen um ca. 20% auf 3‘200 im Jahr 2018 gesunken. Im Verhältnis zur Zahl der Ziviltrauungen in der Schweiz mit katholischer Beteiligung, also mit mindestens einer katholischen Person, erreicht die katholische Kirche somit im Jahr 2018 noch eine Trauquote von 22%. Wenn beide Eheleute katholisch sind, liegt die Wahrscheinlichkeit einer kirchlichen Trauung bei 36%. Diese Beobachtungen zeigen, dass eine kirchliche Eheschliessung für Katholikinnen und Katholiken längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

 

3.2 Kirchenbindung und Taufe

3.2.1 Sinkende Taufquoten in der Schweiz

Das gleiche gilt für die Taufe der Kinder. Statistisch gesehen dürfte die Entwicklung der Kirchenmitgliederzahlen mit dem Verhalten im Blick auf die Taufe eines Kindes zusammenhängen. Wenn katholische Eltern ihr Kind nicht mehr taufen lassen, dann ist eine Kirchenmitgliedschaft schon beendet, bevor sie beginnen konnte.
Ob Eltern ihr Kind in der katholischen Kirche taufen lassen, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Bei einem rein katholischen Paar liegt die Chance für eine Taufe der Kinder höher, als bei einem Paar mit nur einem katholischen Kirchenmitglied. Mit unterschiedlicher Konfessions- oder Religionszugehörigkeit der Eltern sinkt statistisch gesehen ebenfalls die Taufbereitschaft für das eigene Kind. In hohem Masse gilt dies auch, wenn ein Elternteil gar keine Religionszugehörigkeit mehr aufweist.

Neben diesem Faktor der weltanschaulichen, religiösen oder konfessionellen Konkurrenz innerhalb einer Familie ist ein weiterer Faktor wichtig: Wie sieht es mit der kirchlichen Beheimatung katholischer Eltern aus? Haben sie sich noch firmen lassen? Haben sie katholisch oder kirchlich geheiratet? Wenn die katholisch-kirchliche Sozialisation schon bei den Eltern nur schwach ausgeprägt ist, dürfte dementsprechend auch die Bereitschaft, das eigene Kind taufen zu lassen, ebenfalls auf einem sehr niedrigen Niveau liegen.

3.2.2 Taufquoten in der Schweiz

Diese Beobachtungen und Thesen lassen sich kirchenstatistisch erhärten. Die Zahl der katholischen Taufen ist zwischen 2013 und 2018 um 11% gesunken. 2018 wurden 18‘568 Menschen katholisch getauft, davon mehr als 98% von ihnen als Kinder oder (viel seltener) als Jugendliche. Insgesamt entspricht diese Zahl an Taufen ca. 21% der Zahl der Geburten in der Schweiz. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass angesichts des hohen Anteils an Menschen mit Migrationshintergrund in der katholischen Kirche (2017: 38% der katholischen Bevölkerung) etliche in der Schweiz geborene Kinder im Ausland getauft und somit von der Schweizer Kirchenstatistik nicht erfasst werden, dennoch liegt der Anteil von 21% katholisch getaufter Kinder signifikant unter dem Anteil der katholischen Bevölkerung von knapp 36% (2017).

Grobe Schätzungen und Modelle erlauben die These, dass die Weitergabe der Kirchenmitgliedschaft an die Kinder heute bei rund 20 bis 50% der Kinder nicht mehr geschieht. Dieser innerfamiliäre Bruch der Kirchenzugehörigkeit ist zwar regional unterschiedlich stark ausgeprägt, dennoch fordert er die katholische Kirche überall in der Schweiz heraus.
Auch die evangelisch-reformierte Kirche in der Schweiz steht vor einer ähnlichen Situation. 2018 erreichte die evangelisch-reformierte Kirche eine Taufzahl von gut 13% der Geburten des gleichen Jahres – bei einem reformierten Anteil an der Bevölkerung von knapp 24% (2017).

 

3.2.3 Taufquoten in den Sprachregionen und Bistümern der Schweiz

Die Weitergabe der Kirchenbindung in der Familie, gelingt in den grossen Sprachregionen der Schweiz unterschiedlich. Die Sprachregionen bzw. die entsprechenden Bistümer werden der Einfachheit halber so bestimmt, dass die mehrheitlich gesprochene Sprache eines Kantons die Zuordnung zu einer Sprachregion entscheidet (Bistümer Sitten und Lausanne-Genf-Fribourg: französischsprachig; Bistum Lugano: italienischsprachig, die Bistümer Chur, Basel und St. Gallen: deutschsprachig). Als ungefähre Bemessungsgrundlage der Kirchenstatistik dient im Folgenden die Quote der Taufen im Verhältnis zur Zahl der Geburten innerhalb der katholischen Wohnbevölkerung.

In den deutschschweizerischen Bistümern wurden bei einem katholischen Bevölkerungsanteil von 32% ca. 20% der 2018 Neugeborenen und Kleinkinder getauft. Das entspricht einer Taufquote von gut 60%, zwischen 75% im Bistum St. Gallen und 54% im Bistum Chur.
In den französischsprachigen Bistümern entsprach die Zahl der Taufen 22% der Zahl der Geburten – allerdings bei einem katholischen Bevölkerungsanteil von 41%. Hier liegt die Taufquote im Durchschnitt bei gut 50%, unter 50% im Bistum Lausanne-Genf-Freiburg und ca. 65% im Bistum Sitten. Im Bistum Lugano wurden 2018 1‘344 Kinder katholisch getauft, was 53% der Zahl der Geburten bei einem katholischen Bevölkerungsanteil von 65% entspricht. Das Bistum Lugano erreicht somit eine Taufquote von gut 80%.

Es zeigen sich also beachtliche Unterschiede zwischen den Bistümern und Sprachregionen. Während in den Bistümern Lugano und St. Gallen derzeit ca. acht von zehn Kindern getauft werden, sind es im Bistum Sitten ca. 7 und im Bistum Basel ca. sechs von zehn Kindern. Die tiefsten Raten zeigen die Bistümer Chur und Lausanne-Genf-Fribourg: dort wird ungefähr jedes zweite Kind innerhalb der katholischen Bevölkerung getauft. Es fällt zudem auf, dass diese Rate, mit Ausnahme des Bistums Lugano, innerhalb der letzten Jahre gesunken ist.

Fazit: Die Taufe innerhalb der katholischen Bevölkerung wird zusehend hinterfragt. Zwar wird die Mehrheit der Kinder innerhalb der katholischen Wohnbevölkerung immer noch getauft, den Charakter der Selbstverständlichkeit hat die Taufe jedoch in vielen Regionen der Schweiz verloren.
Diese Entwicklung ist relativ neu, sie deutet auf eine gewachsene Fragilität der Mitgliederbindung in der katholischen Kirche hin. Die katholische wie auch die reformierte Kirche in der Schweiz sind zusehends mit der Situation konfrontiert, dass eine Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz ohne kirchliche Mitgliedschaft aufwächst.

3.2.4 Gründe für Unterschiede zwischen den Bistümern und Sprachregionen

Die Unterschiedlichkeit des Anteils an Taufausfällen in den Sprachregionen dürfte verschiedene Ursachen haben:

Der Kanton Tessin ist als monokonfessionell-katholisch geprägter Kanton weniger durch gemischtkonfessionelle Familienkonstellationen geprägt als die anderen Sprachregionen. Die Aufrechterhaltung der Kirchenbindung über die Generationen hinweg ist dadurch im Bistum Lugano weniger in Frage gestellt, als dies in den anderen Sprachregionen der Fall ist. Dazu kommt eine oft ländlich-kleinräumige Wohnortstruktur, wo religiöse Traditionen eine höhere Stabilität und eine höhere Bedeutung im Alltag der Menschen besitzen. Dies zeigt sich auch in ähnlich strukturierten Gebieten in den anderen Sprachregionen, also in katholisch geprägten Landkantonen.

Im Bereich der französischsprachigen Schweiz gibt es unterschiedliche Sonderfaktoren, die berücksichtigt werden müssen:
Einerseits ist die überdurchschnittlich hohe migrantische Prägung der katholischen Wohnbevölkerung in den Kantonen Genf (69% Migrationshintergrund) und Waadt (65% Migrationshintergrund) zu sehen. Dies kann dazu führen, dass Taufen – wie bereits erwähnt – in katholischen Familien mit Migrationshintergrund als „Familienfest“ im Herkunftsland gefeiert und damit nicht in der Schweizer Statistik aufgeführt werden.
Eine zweite Ursache für die hohe Ausfallquote bei den Taufen kann darin liegen, dass die wenigsten französischsprachigen Kantone ein staatskirchenrechtliches Mitgliedschafts- und personenbezogenes Kirchensteuermodell kennen. Ein Kirchenaustritt ist daher formal gar nicht möglich. Eine persönliche Entfremdung von der Kirche führt also in der Regel nur zu kirchlicher Inaktivität, nicht aber zu einem messbaren Austritt, wenn man vom sehr seltenen Fall einer offiziellen Apostasie, einer Abwendung vom Glauben und von der Kirche absieht.
Die SPI-Kirchenstatistik zeigt demensprechend für die Kantone Genf, Neuenburg, Waadt und Wallis nur sehr geringe Austrittszahlen an. Vor diesem Hintergrund eines möglicherweise höheren Anteils an längst entfremdeten Kirchenmitgliedern in der Westschweiz kann die höhere Taufausfallquote ggf. etwas relativiert werden.

Die deutschsprachigen Kantone auf der anderen Seite verfügen im Vergleich zum Durchschnitt der Westschweizer Kantone über einen geringeren Anteil an MigrantInnen, so dass das Gewicht „ausländischer“ Taufen kleiner sein dürfte. Das in der Deutschschweiz verbreitete staatskirchenrechtliche System der Kirchenmitgliedschaft führt zudem zu einer möglicherweise höheren Bindungsintensität der Kirchenmitglieder, zumal die katholische Kirche in der Deutschschweiz auf verschiedenen Ebenen mehr Möglichkeiten als in den anderen Sprachregionen hat, sich bei den Mitgliedern in Erinnerung zu rufen und so die Kirchenbindung zu stärken. Zu denken ist hier z.B. an eine professionelle und teilweise im Schulsystem verankerte Katechese, an eine weit verzweigte verbandliche Kinder- und Jugendpastoral oder an die verbreitete regelmässige Zustellung von Kirchenzeitungen an alle Kirchenmitglieder. Nicht zuletzt könnten auch die demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten im Bereich der katholischen Kirche in der Deutschschweiz zu einer intensiver erlebten Kirchenbindung beitragen.

4. Fazit und Perspektiven

4.1 Fazit

Das Bild der Kirchenstatistik auf die katholische Kirche in der Schweiz ist ambivalent. Einerseits lässt die anhaltend hohe Mitgliederzahl an ruhiges Fahrwasser denken, andererseits gibt es Strudel und Untiefen, wenn man unter die Wasseroberfläche schaut.

Vieles spricht dafür, dass die katholische Kirche in der Schweiz vor allem aufgrund ihrer hohen Migrationsprägung zunächst als stabile Grösse in der Schweizer Bevölkerung wahrgenommen werden kann. Zwar sinkt der Anteil der katholischen Bevölkerung an der Schweizer Gesamtbevölkerung, aber im Vergleich zur evangelisch-reformierten Kirche zeigt sich die katholische Kirche bis in die jüngste Zeit stabil.

Wenn man jedoch die Befindlichkeit der KatholikInnen im Blick auf die Intensität ihrer gelebten Kirchenbindung in den Blick nimmt, dann drängt sich das Bild einer inneren Erosion der Kirchlichkeit auf: die Teilnahme an wichtigen religiösen Handlungen in der Kirche sinkt. Nachdem Priesterweihen und Beichtzahlen schon lange auf sehr niedrigem Niveau messbar sind und die Zahl der katholischen Eheschliessungen seit längerer Zeit kontinuierlich sinkt, zeigt sich in den letzten Jahren auch ein Rückgang der Taufen. Vieles spricht dafür, dass die fragil gewordene Kirchenbindung der Angehörigen der katholischen Kirche über kürzere oder längere Zeit eine zunehmende Erosion der Mitgliederzahlen zur Folge hat. Dies zeigt sich dann durch Austritte oder durch den Wegfall der Kirchenbindung mit dem Ausfall der Taufe.

Wenn man berücksichtigt, dass hinter den Austrittszahlen eher jüngere als ältere Menschen stehen, die sich von der Kirche abwenden, dann lässt sich ein verstärkter Rückgang der katholischen Kirchenzugehörigkeit vor allem in den jüngeren Generationen feststellen. Das führt in diesen Altersgruppen zu einer Verschiebung kultureller Normalität: Kirchenmitglied zu sein ist bei jüngeren Menschen in der Schweiz, vor allem im städtisch geprägten Umfeld, je länger je mehr eine Ausnahmeerscheinung. Umgekehrt beginnen gerade hier Kirchenaustritt oder „angeborene Konfessionslosigkeit“ als gesellschaftlicher Regelfall zu gelten.

 

4.2 Perspektiven

4.2.1 Mitgliederbindung stärken

Einmal ausgetretene Menschen wieder für die Kirche zu gewinnen ist deutlich aufwändiger als in die Pflege der Kirchenbindung von Menschen zu investieren, die innerhalb der Kirche bereits auf Distanz gegangen sind. Diese sind als Mitglieder im Prinzip noch gut ansprechbar, allerdings müssen ihre Bedürfnisse und ihr Selbstverständnis genau verstanden werden. Dazu gehört vor allem das Bedürfnis nach Autonomie in Fragen von Religion und Lebensgestaltung. Auch das Selbstverständnis vieler entfremdeter Kirchenmitglieder, sich mit der kirchlichen Alltagsdistanz und der praktizierten „Religionssparsamkeit“ als normal zu empfinden, muss anerkannt werden. Damit gibt es nicht wenige Unverträglichkeiten im Blick auf kirchliche Idealvorstellungen bezüglich gelebter und aktiver Kirchenzugehörigkeit: Distanzierte wollen sich oft nicht aktivieren lassen. Sie sehen in ihrem Verhalten keinerlei Defizit, sondern den Normalfall schweizerischer Religiosität. Hier reicht es vermutlich nicht, seitens der katholischen Kirche mit hohem Selbstbewusstsein die eigenen Leistungen und die eigene Bedeutsamkeit in Erinnerung zu rufen. Besser wäre es, auch Dankbarkeit für die kirchensteuerliche Unterstützung oder die Restsympathie von „unsichtbaren Kirchenmitgliedern“ zu betonen.

 

4.2.2 Religiöse Entfremdung umkehren

Viele Menschen halten ihre Kirchenmitgliedschaft aufrecht, weil sie die sozialen Leistungen der Kirchen anerkennen und schätzen. Aber: ohne eine mindestens rudimentär auch religionsbezogene Sympathie für die Kirche kann diese im Konkurrenzkampf sozialer Dienstleistungsunternehmen kaum lange mit dem Rückhalt von Mitgliedern rechnen. Das gilt insbesondere dann, wenn diese im Bereich von Religion und Spiritualität in ihrer Kirche leer ausgehen. Das Kernproblem der Erosion der Kirchenbindung muss als Problem religiös-spiritueller Irrelevanz der Kirche für viele Menschen ernst genommen werden. Dabei spielt insbesondere die Entfremdung in Teilen der Kirche von den Lebensrealitäten von Paaren und Familien eine wichtige Rolle. Hier fehlt es offenbar an religiöser Alltagsnähe. Seitens der Kirchen wäre es daher an der Zeit, über religiöse Antworten auf Fragen nachzudenken, die den Menschen wirklich am Herzen liegen, die aber bislang kaum in der religiösen Praxis und Kommunikation aufscheinen. Aus Sicht vieler kirchlicher Akteure müsste dies auch heissen, nicht die Distanzierung der Menschen von der Kirche, sondern das Eingeständnis der Entfremdung weiter Teile der Kirche von den Menschen zum Ausgangspunkt einer neuen religiösen Beziehungsarbeit zu nehmen. Die Relevanz der kirchlichen Botschaft kann nur mit ihren AdressatInnen gemeinsam entdeckt und profiliert werden, nicht für sie.

 

4.2.3 Den gesellschaftlichen Ort neu definieren

Wer nur auf den Anteil der römisch-katholischen bzw. evangelisch-reformierten Bevölkerung der Schweiz verweist, wenn es um die zukünftige Legitimation der in den meisten Kantonen der Schweiz verankerten staatskirchenrechtlichen Rolle geht, wird bald Legitimationsprobleme bekommen. Für die grossen Kirchen heisst dies, ihre Rolle und Bedeutung für die ganze Schweiz neu und konstruktiv zu definieren. Auch Minderheiten können nämlich mit einer hohen gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Anerkennung rechnen, wenn sie sich glaubwürdig und überzeugend für das Wohl aller einsetzen.
Hier sind die Kirchen herausgefordert, ihren Kernauftrag, ihre Mission, neu zu formulieren und umzusetzen. Schaut man auf die Konflikte, die aktuell innerhalb der Kirchen ausgetragen werden, so ist darin die Suche nach einem erneuerten missionarischen Selbstverständnis gut erkennbar: sollen sich die Kirchen, gestützt auf eher enge Traditionsbindung, profilieren und als Alternativgemeinschaft gegenüber der Gesellschaft abgrenzen? Oder sollen die Kirchen, gestützt auf das Vertrauen auf eine lebendige und zukunftsoffene Tradition, sich in den Dienst der Gesellschaft stellen und ihre Nähe suchen, weil sie nur in der Nähe zu den Menschen auch selbst begreifen kann, was ihre Tradition im Kern ausmacht?

 

4.2.4 Streit aushalten, Überraschungen zulassen und Veränderung ermöglichen

Längst hat man in den Kirchen erkannt, dass es ernst wird. Bislang scheinen die anstehenden Herausforderungen und die Frage nach der heutigen Bedeutung der Mission der Kirche allerdings eher zu Streit und Spaltung unter den Gläubigen zu führen als zu einem gemeinsamen Aufbruch.
Hier sind die Kirchenleitungen herausgefordert, die Suche nach Wegen aktiv zu gestalten und auch Phasen des Streits auszuhalten. Auf der pastoralen Seite heisst dies, das genaue Hinsehen und Hinhören wagen, die Fakten anerkennen – aber auch für überraschende Einsichten und Deutungen offen sein. Die staatskirchenrechtliche Seite ist ebenso gefordert: Auch sie muss eine ehrliche Analyse der Kirchensituation vornehmen und Bereitschaft zeigen, sich auf grössere Veränderungen zugunsten neuer Prioritäten einzulassen.

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